„Kinder machen sich aus Liebe zu Eltern selbst unglücklich“
Gerald Hüther, Neurobiologe, erklärt, wie wir Kindern unbewusst die Freude am Lernen nehmen und damit ihr Potenzial vernichten.
Ihr Kind will geliebt werden, es liebt Sie – und es will Sie glücklich machen.
Damit verraten wir Ihnen bestimmt nichts Neues, das klingt wunderbar. Doch wenn das Kind versucht, sich den Erwartungen der Eltern komplett anzupassen, dann verliert es an Spontanität, Lebensfreude und Sinnlichkeit, wie der Hirnforscher Gerald Hüther meint.
Wenn das Kind immer wieder die gesamte Küchenausstattung in den Schränken ausräumt, stoßen Eltern vielleicht an ihre eigenen Kapazitäten dieser Entdeckerfreude. Sie verbieten es. Das Kind merkt also, dass dies nicht erwünscht ist. Folglich werden im Gehirn des Kindes synaptische Hemmungen auf jenen Bereich gelegt, der für die Entdeckerfreude und Begeisterung verantwortlich ist. Das Gleiche passiert, wenn ein Kind ein wahnsinniges Bedürfnis hat, sich zu bewegen, und sich schwertut, am Tisch zu sitzen. Es wird irgendwann womöglich merken, dass es beim Versuch, sich zu entfalten, an Grenzen stößt. Es wird also gezwungen, dieses Bedürfnis zu unterdrücken.
Jedes Kind hat einen großen Wunsch: dass es von den Eltern geliebt wird. Es möchte die Eltern glücklich machen. Wenn es mit seinem Drang nach Entfaltung nun immer wieder die Ablehnung der wichtigsten Bezugspersonen spürt, dann wird dieses Bedürfnis nach und nach unterdrückt. Das passiert nicht bewusst, sondern ist eine Funktion im Gehirn, die passieren muss: Der Zustand, in dem ein Gehirn, ein ganzer Mensch am wenigsten Energie verbraucht, heißt Kohärenz. Der ist dann erreicht, wenn alles optimal zusammenpasst. Durch diesen Konflikt zwischen dem Bedürfnis des Kindes und den Grenzen der Eltern entsteht also eine Situation, die die Kohärenz stört. Das wird dann schnell unbequem, weil die Nervenzellen beginnen, unkoordiniert zu feuern. Dann geht es uns nicht gut, wir beginnen nach einer Lösung zu suchen, und wenn wir die finden und die Herausforderung bewältigen können, wird dieser inkohärente, energieaufwendige Zustand im Hirn wieder etwas kohärenter. Das Kind ist dann also „freiwillig“ bereit, seine Bedürfnisse abzustellen. Ich nenne es gerne „Dieser Bereich im Gehirn wird verwickelt“. Das kann alles sein: Lernfreude, Begeisterung oder Mitgefühl. Wenn das Kind das gut hinbekommen hat, dann gibt es auch noch eine Belohnung dafür: die Freude der Eltern, weil das Kind brav ist.
Mitgebrachte Bedürfnisse und Persönlichkeiten eines jeden Menschen werden irgendwann so gut eingewickelt, bis man in die Familie und in die Gesellschaft reinpasst. Die, die sich am besten verwickelt haben, passen dann auch am besten rein. Ergo: Ein guter Schulabschluss ist nicht unbedingt ein Indikator von Intelligenz, sondern von guter Anpassungsfähigkeit.
Weil man in diesem Zustand nie richtig glücklich ist. Bei solchen Verwicklungen ist es nämlich so, dass sich das Bedürfnis immer wieder meldet und man es mit hohem Energieaufwand immer wieder wegdrücken muss. Das ist auch der Grund, warum sich besonders verwickelte Menschen auch nicht mehr entfalten können. Sie müssen sich immer weiter anpassen, immer weiter verwickeln, und irgendwann sind sie aalglatt und rutschen überall durch. Sie passen immer überall rein, aber sie haben wichtige Eigenschaften verloren: die Lebensfreude, Spontanität, Sinnlichkeit.
Eine Ent-Wicklung ist immer möglich.
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